Kapitel 13
Lisa hob den Kopf und schaute sich vorsichtig in dem Zimmer um. Ihr Herz klopfte sehr laut, und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war oder wie sie hierhergekommen war. Die letzte klare Erinnerung, die sie hatte, war, dass sie sich in der Cafeteria im Krankenhaus etwas zu trinken geholt hatte. In einem Krankenhaus war sie jetzt mit Sicherheit nicht mehr.
Cullen lag ausgestreckt auf einem breiten Mahagonibett. Seine Haut wirkte weit weniger grau. Wenn überhaupt, fand Lisa, sah er noch besser als vorher aus. Als sie sein Gesicht sanft mit den Fingerspitzen berührte, regte sich in ihr ein namenloses Gefühl, das scharf und schnell wie aus dem Nichts in ihr aufstieg. Sie kannte diesen Mann kaum, und trotzdem schien er ihr schon so viel zu bedeuten. Das machte ihr Angst, wie ihr so vieles Angst machte. Das Leben an sich machte ihr Angst. Es gab keine wirkliche Sicherheit, das wusste Lisa; Menschen, die man liebte, Menschen, die man zu kennen glaubte, konnten sich im Handumdrehen in Monster verwandeln und es darauf anlegen, andere zu zerstören.
Sie hatte kein Recht, in das Leben dieses Mannes einzudringen. Er war zu gut für sie, ein Fels in der Brandung, jemand, der imstande war, sie vor bewaffneten Killern zu beschützen. Sie war seelisch verletzt worden, und diese Wunden würden niemals heilen. Während Corinne eine starke Persönlichkeit geworden war, die das Leben akzeptierte, und gelernt hatte, die Schönheit und das Gute in der Welt zu sehen, gab es für Lisa nur Unsicherheit und Schatten. Sie lebte in ständiger Angst. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Schwächen zu überwinden, sie wusste, dass sie nie in der Lage sein würde, sich dem Leben allein zu stellen. Wo war Corinne? Wo war ihr Bruder? Sie konnte nicht allein weitermachen.
Aber du bist nicht allein.
Lisa fuhr herum und sah sich panisch um. Das Zimmer war leer. Sie war die Einzige, die sich hier aufhielt. Und sie hatte nicht laut gesprochen. Da war nur noch ... Lisa drehte sich wieder zum Bett um. Cullen lag immer noch mit geschlossenen Augen da, aber seine Hand schob sich langsam über die Decke, um ihre Finger zu finden. Sofort verschlang sie sie mit seinen. »Gott sei Dank, Cullen! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!«
Ein schwaches Lächeln spielte um seinen Mund. »Es sollte mir leidtun, dass ich dir Sorgen bereitet habe« - seine Stimme war leise, aber kräftig - »doch ehrlich gesagt, ich bin froh, dass dir genug an mir liegt, um Angst um mich zu haben.«
»Gott sei Dank bist du aufgewacht«, murmelte sie glücklich. »Ich weiß nicht, wo Corinne ist, und wir sind nicht mehr im Krankenhaus. Deine Freunde sind gekommen, um dich abzuholen. Sie meinten, diese Leute würden dich töten, wenn wir dort blieben. Ich dachte, sie würden uns zu Dayan und Corinne bringen, wo immer sie auch sein mögen, aber ..,.« Sie sah sich etwas hilflos um. »Ich weiß nicht, vielleicht sind sie ja hier; ich bin eben erst aufgewacht. Keine Ahnung, wie wir hierhergekommen sind.«
Cullens Wimpern flatterten, als er versuchte, die Augen zu öffnen, um Lisas Gesicht zu sehen. Sie klang bekümmert und verloren, und er hätte sie am liebsten in die Arme genommen. »Barack und Syndil von der Band waren da, oder? Ich habe mit ihnen gesprochen. Ich dachte, ich hätte auch Darius gehört.«
Sie zog seine Hand an ihr Kinn und presste sie auf ihre
Haut. »Von einem Darius weiß ich nichts. Ich kann mich nicht erinnern, den Namen jemals gehört zu haben.«
»Darius ist der Bruder von Desari, unserer Sängerin. Er ist bei der Band für sämtliche Sicherheitsfragen zuständig. Wenn Darius in der Nähe ist, braucht man sich praktisch um nichts mehr zu sorgen. Wenn er den Befehl gegeben hat, Corinne und mich irgendwo in Sicherheit zu bringen, haben sie genau das getan.«
»Ich habe nur Barack und Syndil gesehen. Sie waren sehr nett, vor allem Syndil«, erzählte Lisa. »Ich hatte solche Angst, Cullen. Die Ärzte sagten, dass du die Nacht möglicherweise nicht überleben würdest und dass Corinne und das Baby sterben würden. Und dann war Corinne auf einmal spurlos verschwunden.« Lisa gab sich wirklich Mühe, nicht allzu wehleidig zu klingen, doch der weinerliche Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören, und dafür hasste sie sich.
Cullen schaffte es, die Augen zu öffnen und sie anzuschauen. Er holte tief Luft, um den schwachen Pfirsichduft einzuatmen, der sie immer zu umgeben schien. Lisa war in seinen Augen so schön, dass es fast wehtat, sie anzuschauen. Sie bemühte sich verzweifelt, stark zu sein, etwas zu sein, das sie nicht war, und kritisierte sich selbst, weil sie ihren eigenen strengen Maßstäben nicht gerecht wurde. »Alles wird gut, Lisa. Ich sterbe ganz bestimmt nicht, das verspreche ich dir. Barack hat mir sein Blut gegeben.«
Sie blinzelte verständnislos. »Du hast eine Transfusion gebraucht, und er hat dir eine gegeben? Ich habe gehört, wie Syndil über Blut gesprochen hat, das du dringend brauchst, aber die Erinnerung ist ziemlich verschwommen.« Lisa stellte fest, dass alle ihre Erinnerungen an die beiden Bandmitglieder ausgesprochen vage waren. Sie konnte von keinem der beiden ein Bild heraufbeschwören, obwohl sie erst vor kurzem mit ihnen zusammen gewesen war. Ihre Schläfen pochten, und sie rieb sich die Stirn.
Cullen zupfte sie an der Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Das ist doch jetzt nicht wichtig, mein Liebling. Überlass es den anderen, sich um alles zu kümmern.« Er lächelte sie an. »Ich bin froh, dass du hier bei mir bist. Ich weiß, du wärst lieber bei Corinne, aber ich brauche dich. Dayan ist fantastisch - er würde nie zulassen, dass ihr etwas passiert.«
»Und wo war er, als ihr in den Park gekommen seid? Warum warst du bei Corinne und nicht Dayan?« Lisa versuchte, ihre Worte nicht anklagend klingen zu lassen. Ein Teil von ihr lehnte Dayan heftig ab - es sei denn, er stand direkt vor ihr. Dann schien sich ihre Meinung über ihn total zu ändern; warum, wusste sie selbst nicht. Nichts von all dem ergab einen Sinn. Lisa fuhr sich ratlos mit einer Hand durchs Haar. »Ich weiß nicht recht, was ich von Dayan halten soll.«
Sie sah schöner als je zuvor aus, fand Cullen. »Dayan tut Corinne gut. Ich kenne ihn, Lisa. Wenn du irgendetwas auf meine Meinung gibst, kannst du mir zumindest in dieser Sache vertrauen. Ich kenne ihn und weiß, wie er ist. Er würde niemals eine Freundschaft verraten, und für mich ist er das, was einer Familie am nächsten kommt. Die Band hat mich aufgenommen, als niemand sonst für mich dawar. Jeder Mensch, den ich geliebt hatte, war tot, und ich hatte keine Zukunft. Die Mitglieder der Band ignorierten bewusst die Tatsache, dass ich mich aktiv daran beteiligt hatte, Jagd auf sie zu machen, und erlaubten mir stattdessen, mit ihnen auf Reisen zu gehen. Sie boten mir nicht nur ihren Schutz und ihre Freundschaft an, sondern nahmen mich in ihre Familie auf und gaben mir das Gefühl, zu ihnen zu gehören. Nur wenige Leute wären einem Fremden gegenüber so freundlich gewesen.«
Lisa saß ganz still da. Sie war unerklärlich glücklich über Cullens Nähe. Wenn sie bei ihm war, fühlte sie sich sicher und geborgen.
Jemand klopfte leise an die Tür, und Lisa drehte sich schnell um, als Syndil hereinkam und die beiden anlächelte.
»Ihr seid also wach! Das ist gut. Geht es Cullen schon etwas besser?«
Lisa musste unwillkürlich lächeln. Syndil war eine ruhige und sehr ansprechende Frau, und Lisa konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals anders als nett und aufrichtig war. »Es geht ihm ziemlich gut«, antwortete sie und strich Cullen das Haar aus der Stirn. »Ich finde, er hat schon mehr Farbe, und seine Stimme ist kräftig.« Sie drehte sich zu Cullen um. »Tut dir irgendetwas weh ?«
Sie klang so ängstlich, dass Cullen seinen Griff um ihre Hand verstärkte und sie liebevoll anlächelte. »Erstaunlicherweise geht es mir ganz gut. Aber noch einmal möchte ich diese Erfahrung nicht machen. Es war ganz schön beängstigend.«
Lisa und Syndil wechselten einen sehr weiblichen Blick. »Du warst die meiste Zeit ohne Bewusstsein, Cullen«, bemerkte Lisa. »Wir hatten große Angst um dich.«
»Ich zeige Lisa jetzt das Haus«, teilte Syndil Cullen mit ihrer sanften Stimme mit, »während Barack nach dir schaut. Er möchte dir ein paar Dinge erklären.« Sie nahm Lisa fest am Arm. »Komm, ich führe dich ein bisschen herum, damit du dich zurechtfindest. Falls du etwas brauchst, sag es uns bitte sofort.« Als sie mit Lisa durch die Tür ging, flüsterte sie ihr verschwörerisch zu: »Es ist nicht zu übersehen, dass Cullen deine Gesellschaft lieber ist als jede andere.«
Lisa lächelte Syndil an. Sie bemerkte den kalten Luftzug nicht, der sie streifte, als Barack ungesehen an ihr vorbeiglitt. Er wartete, bis die Tür ins Schloss fiel und er hören konnte, wie
Syndil mit Lisa über die Essensvorräte in der Küche sprach, bevor er sich neben dem Krankenbett materialisierte.
Cullen sah ihn geduldig an. »Ich wusste, dass du da bist. Du hast mir dein Blut gegeben, stimmts?«
Barack zuckte nachlässig die Schultern, als wäre das unvorstellbare Geschenk des Lebens nicht weiter der Rede wert. »Du weißt doch, wie viel die Frauen von dir halten. Ich konnte gar nicht anders, als deine wertlose Haut zu retten, sonst hätten sie mir die nächsten Jahrhunderte unablässig im Nacken gesessen.«
»Darms?« Cullen sagte den Namen sehr leise.
Barack grinste ihn an. »Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn er dich besuchen kommt. Er ist nicht gerade begeistert, dass du dich so exponiert hast. Und dann ist da natürlich noch Dayan.«
Cullen stöhnte laut. »An Dayan will ich im Moment lieber nicht denken. Wie geht es Corinne?«
Barack seufzte. »Sie hat nicht mehr lange zu leben, wenn Dayan ihr nicht sein Blut gibt und sie voll und ganz in unsere Welt holt. Aber das Kind ist eine Komplikation. Es heißt, die Kleine sei wie Corinne, und wir wollen keine von beiden verlieren. Sie versuchen ihr Möglichstes.« Er sah zur Tür. »Wir haben viel zu besprechen und wenig Zeit. Lisa kann es kaum erwarten, wieder bei dir zu sein.«
»Du beurteilst sie zu hart, Barack«, sagte Cullen.
»Das findet Syndil auch«, erwiderte er. »Cullen, du weißt, dass du dich verändert hast. Du bist für alle Zeiten mit mir verbunden. Du kannst jederzeit im Geist Verbindung zu mir aufnehmen; es gibt einen offenen Weg zwischen deinem und meinem Bewusstsein. Die Blutsbande zwischen uns wird dein ganzes Leben lang bestehen. Du hast gewusst, was wir alle zeitweise sind, doch wir haben einen Großteil deiner Erinnerungen verschleiert, um dich nicht in Gefahr zu bringen. Das ist jetzt anders geworden. Du wirst immer eine gewisse Bedrohung für unsere Spezies darstellen. Sollte dein Blut untersucht werden, würdest du uns gefährden.«
Cullen nickte, den Blick unverwandt auf Baraeks Gesicht gerichtet. Etwas Ähnliches hatte er bereits vermutet. Er hatte es in dem Moment gewusst, als er aufgewacht war. Sein Gehör war viel schärfer als früher. Es war Nacht, doch er konnte klar und deutlich im Dunkeln sehen. Er fühlte sich anders, kräftiger und gesund - trotz seiner schweren Wunden. Ihm war außerdem bewusst, dass sein Körper in rasantem Tempo heilte.
Cullen war schon eine ganze Weile mit der Band unterwegs. Er hatte gelernt, die Tatsache zu akzeptieren, dass er manchmal wusste, wer und was sie waren, während seine Erinnerungen an sie zu anderen Zeiten eher vage und verschwommen waren und er kein klares Bild von ihnen heraufbeschwören konnte. Ein Teil von ihm wusste, dass es notwendig war, die Band vor Menschen abzuschirmen, die Informationen über sie bekommen wollten. Und es war notwendig, sich selbst vor Vampiren zu schützen, die versuchen könnten, diese Informationen aus seinem Bewusstsein herauszufiltern. Da er zusammen mit der Band unterwegs war, würde er vermutlich eines Tages einem Vampir begegnen. Alles hatte sich verändert, als Barack ihm sein Blut gegeben hatte, das wusste Cullen.
»Du stehst unter dem Schutz der Familie«, erklärte Barack leise, »und Darius lässt dir ausrichten, dass es immer so bleiben wird. Aber wir können Geschehenes nicht ungeschehen machen. Es gilt, Entscheidungen zu treffen. Wir haben uns dazu entschlossen, dein Leben zu retten, und das Blut wurde dir wegen deiner Zugehörigkeit zu unserer Familie bereitwillig gegeben, doch alle anderen Entscheidungen musst du selbst treffen. Was du auch beschließt, wir werden es respektieren.«
Cullen nickte. Er verstand mehr, als Barack wusste. Wenn seine Erinnerungen an sie scharf und deutlich waren, erinnerte er sich an jedes Detail, und er hatte sehr viel über ihre Spezies gelernt. Sie ließen ihm eine Wahl, und er war ihnen dankbar, überhaupt mit einbezogen zu werden.
»Es ist keine Entscheidung, die man leichtfertig treffen sollte, Cullen«, fuhr Barack fort. »Du musst eines wissen: Ich werde immer in der Lage sein, deine Gedanken zu lesen, ob du dich nun für das volle Wissen entschließt oder dafür, deine Erinnerungen teilweise löschen zu lassen. Ich würde es sofort wissen, wenn du uns an jemanden verrätst, einschließlich deiner zukünftigen Frau. Ich sehe genau, was in dir vorgeht. Du willst mit Lisa zusammen sein, aber sie wird nie imstande sein, unsere Spezies zu akzeptieren, so wie sie ist. Lisa muss uns immer für Menschen halten. Sie kommt schon nicht damit zurecht, dass Corinne anders ist, und mit dem Wissen über uns könnte sie nicht leben. Wenn du uns als Familie annimmst, darfst du ihr nie anvertrauen, was wir sind. Du bist ein Mensch, dem Ehre und Integrität viel bedeuten. Du wünschst dir eine vollkommene Partnerschaft mit deiner Frau. Sie wird stets Teil unseres Lebens sein, weil sie Corinne liebt, und weil Corinne sie liebt. Für Corinne ist Lisa ihre Familie, so wie du es für uns bist. Aber du wirst dein Wissen immer vor Lisa verbergen müssen. Wir haben Gefährten. Wir verstehen die Bindung zwischen Mann und Frau. Wenn du dich dafür entschließt, deine Erinnerungen zu löschen, werden wir dafür Verständnis haben. Denk daran, dass wir trotzdem dasselbe für dich empfinden werden und du nach wie vor unter unserem Schutz stehst. Es liegt bei dir.«
Cullen lächelte und zeigte dabei seine blendend weißen Zähne. »Ihr seid meine Familie.«
»Wie Lisa es sein wird.«
»Richtig. Und Corinne. Lisa liebt sie wie eine Schwester. Meine Frau wird für den Rest ihres Lebens mit euch verbunden bleiben. Wenn ich mich für das Vergessen entscheide, kann ich sie nicht beschützen und vor all den Dingen abschirmen, die sie nicht akzeptieren kann. Ich weiß, wie Lisa ist. Sie braucht Geborgenheit und jemanden, der bereit ist, alles von ihr fernzuhalten, was sie nicht verkraften kann. Ich möchte dieser Jemand sein. Nicht du oder Darius soll es sein, sondern ich. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich je wieder so lebendig fühlen könnte. Du weißt, was Stärke ist, Barack, aber du weißt nicht, was für ein Kampf es für jemanden wie Lisa ist, in einer Welt voller Menschen zu leben, die imstande sind, furchtbare Dinge zu tun, Dinge, die sie nicht verstehen kann. Du bist in der Lage zu töten, wenn es sein muss. Sie kann nicht einmal jemanden anschreien. Es tut ihr weh, wenn Leute die Stimmen gegeneinander erheben. In deinen Augen ist das Schwäche. Wenn ich sie anschaue, sehe ich jemanden, der zu gut ist, um in einer Welt wie dieser zu leben. Ich möchte sie beschützen. Ich möchte die Chance haben, von ihr geliebt zu werden.«
»Wir werden die Frau, die dein Leben teilen soll, akzeptieren und lieben. Verzeih mir, Cullen - ich werde an meinen Fehlern arbeiten. Syndil hat mich auch schon darauf hingewiesen, und ich habe nicht vor, diese Einstellung beizubehalten, wenn ich etwas daran ändern kann. Ich werde Lisa kennen lernen, und ich werde sie immer beschützen. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Danke«, sagte Cullen ruhig. »Ich will meine Erinnerungen behalten und helfen, unsere Familie zu beschützen, genau wie du, Dayan, Julian und Darius. Ich will nichts vergessen, weder Gutes noch Schlechtes. Ihr seid alles, was ich habe.«
»Dann soll es so sein.« Barack nahm Cullens Hand und hielt sie einen Moment lang fest, bevor er vom Bett zurücktrat. »Ich habe deine Antwort an Darius und die anderen übermittelt. Wenn sich die Notwendigkeit ergibt, brauchst du nur dem Weg in deinem Bewusstsein zu folgen, um mit mir zu sprechen.« Er grinste. »Genauso kannst du natürlich mit Darius reden.«
Cullen starrte ihn einen Moment lang an, während er diese Information verdaute. Er hätte wissen müssen, dass Darius sein Blut nehmen würde, um Zugang zu seinem Bewusstsein zu haben. Darius beschützte immer seine Familie. Es entsprach seiner Natur. »Weg mit dir! Lisa anzuschauen, gefällt mir besser. Aber richte Dayan bitte aus, dass wir für Corinne und das Baby beten.«
Corinne schlief sehr unruhig, und seltsame Bilder huschten durch ihre Träume. Wenn sie aufwachte, waren hin und wieder die Heiler im Zimmer, aber meistens war nur Dayan bei ihr. Manchmal lag er neben ihr, hielt ruhig ihre Hand und sah ihr liebevoll ins Gesicht. Dann wieder erwachte sie von den Klängen seiner Musik, einer besänftigenden Harmonie von Stimme und Gitarre. Gelegentlich versuchte sie, die schreckliche Lethargie zu überwinden, die ihren Körper befallen zu haben schien, aber es war zu anstrengend, deshalb schloss sie meistens wieder die Augen und sah Dayan vor sich, der ihr Herz und ihre Sinne erfüllte. Seltsamerweise hatte sie keine Angst mehr, nicht um sich selbst und auch nicht um ihr Kind.
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, als sie schließlich wirklich wach wurde. Ganz still lag sie da und überprüfte, was in ihrem Körper vorging. Sie konnte ihr Herz schlagen hören und ebenso das ihres Babys. Schützend legte sie beide Hände auf ihren Bauch und murmelte dem Kind begütigende Worte zu, wobei sie sich fragte, ob es sie hören konnte. Während sie zu ihrer Tochter sprach, schaute sie sich in dem schönen Zimmer um. Es war sehr groß, in gedämpften, eleganten Farben gehalten und voller Kostbarkeiten, von den Kunstgegenständen bis zu den Schnitzereien an den hohen Decken, die an seltsame, schöne Hieroglyphen erinnerten. Einige der Symbole wirkten beruhigend auf sie, während sie bei anderen Herzklopfen bekam, wenn sie zu lange hinschaute.
Ihre Hand strich über die schwere Decke, unter der sie lag, auch sie ein Kunstwerk, eine wunderschöne Komposition aus Farben, in die ähnliche Symbole wie jene an der Zimmerdecke eingewebt waren. Jedes Muster war weit und klar, der Stoff angenehm auf der Haut. Corinne ertappte sich dabei, immer wieder nach den verschiedenen Symbolen zu tasten und jedes von ihnen mit den Fingern nachzuziehen.
Sie spürte Dayan neben sich. Er lag ganz still da und hielt sie schützend in seinen Armen. Corinne wandte den Kopf und stellte fest, dass er sie zärtlich ansah. In seinen schwarzen Augen lag so viel Liebe, dass es ihr den Atem nahm. Corinnes weicher Mund verzog sich zu einem Lächeln, während sie eine Hand hob und mit zarten Fingern sein Gesicht berührte. »Hallo«, sagte sie leise. »Wartest du schon lange, dass ich wach werde?«
»Mehrere Tage«, antwortete er ehrlich und drehte sich ein Stück herum, damit er sich auf seinen Ellbogen stützen und sie besser anschauen konnte.
»Was machst du da?«, fragte Corinne. Sein forschender Blick machte sie ein bisschen verlegen. Er starrte sie an, ohne auch nur zu blinzeln.
»Ich präge mir dein Gesicht ein«, entgegnete er wahrheitsgetreu, während er seinen Blick über ihre klassischen Züge wandern ließ. »Ich möchte die Augen schließen können und dich immer noch vor mir sehen. Früher empfand ich das Tageslicht als Erleichterung und als Schutz vor den ständigen Einflüsterungen der Dunkelheit, aber ich jetzt mag ich diese Stunden nicht mehr, weil ich dann nicht bei dir sein kann. Ich möchte mit dir reden oder einfach bei dir sein, ohne etwas zu sagen, dich anschauen, die Hände nach dir ausstrecken und dich berühren, wissen, dass du wirklich da bist und nicht nur ein Produkt meiner Fantasie.« Er zog mit den Fingerspitzen ihre Augenbrauen und Lippen nach und verharrte mit dem Daumen an ihrem Mundwinkel. »Ich will nicht mehr schlafen, weil ich dich nicht mitnehmen kann.«
»Musst du denn getrennt von mir schlafen?«, fragte sie und fuhr mit einer Hand an seinem Arm auf und ab. Sie brauchte es beinahe ebenso sehr, ihn zu berühren, wie er den Körperkontakt zu ihr brauchte.
Er beugte sich vor und streifte ihre verlockenden Lippen mit einem zarten Kuss. »Wenn ich schlafe, ist es, als wäre ich tot. Ich stelle Herz- und Lungentätigkeit ein und atme nicht mehr. Unsere Spezies muss sich zum Schlafen nicht in die Erde zurückziehen, und manche von uns tun es auch nicht, sondern schlafen in unterirdischen Kammern, wo sie relativ sicher vor Unfällen und menschlichen Jägern sind. Die meisten von uns aber suchen den verjüngenden Schlaf in der Erde, weil es sicherer und für uns völlig natürlich ist. Ich würde lieber immer neben dir aufwachen, doch es wäre beunruhigend für dich, wenn du aufwachst und mich wie tot daliegen siehst.«
»Nicht dass ich so etwas erwarten würde. Was bedrückt dich, Dayan?« Sie fuhr ihm mit ihren Fingern durchs Haar. »Allmählich kenne ich dich ganz gut, und irgendwas bereitet dir Sorgen. Wenn etwas nicht stimmt, erzähle es mir bitte.«
Er wich ihrem Blick aus. »Was deine Gesundheit angeht, läuft alles so, wie es die Heiler vorhergesagt haben«, antwortete er unbestimmt.
Sie schloss ihre Finger um sein Handgelenk. »Was ist los ?«
Er zuckte beiläufig die Schultern. Zu beiläufig. »Es gibt ein Ritual zwischen Gefährten. Es ist erforderlich, um uns aneinander zu binden. Bis wir formell miteinander verbunden sind, stelle ich für andere immer noch ein gewisses Risiko dar. Aber solange es dir nicht besser geht, Corinne, lässt sich da nichts machen. Es ist bloß ziemlich unangenehm für mich.« Das Tier in ihm rang um die Oberhand. Dayan fühlte, wie es mit jedem Aufstehen stärker wurde. Er brauchte Corinne mehr denn je, um ihm Halt zu geben. Er brauchte ihre Seele, um seine zu binden, ihr Herz, um ihn zu vervollständigen, ihren Körper, um eine sichere Zuflucht zu finden.
»Was für ein Ritual?«, hakte sie neugierig nach. »Und wehe, du speist mich mit einem Schulterzucken ab! Wenn wir eine Partnerschaft haben, musst du mir das Vertrauen schenken, das du auch von mir forderst.«
Er seufzte. »Du setzt mir ja ganz schön hart zu, Corinne. Hat sich mein Charme schon abgenutzt?« Er versuchte zu scherzen, um den Emst der Lage zu überspielen.
»Ich glaube nicht, dass das je passieren wird«, versicherte sie ihm lächelnd. »Aber ich will, dass wir uns in dieser Sache ganz sicher sind. Es ist mir sehr wichtig, Dayan. Ich will nicht das Falsche tun und riskieren, dir wehzutun. Das mit uns ist sehr schnell gegangen. Ich bin jemand, der über alles gründlich nachdenken muss, ehe ich eine Entscheidung treffe. Und du verlangst von mir, sehr viele Dinge in gutem Glauben zu akzeptieren.«
»Wir mögen aus zwei verschiedenen Welten kommen, Corinne, doch du weißt, dass wir zusammengehören.«
»Mag sein«, erwiderte sie knapp. »Erzähl mir mehr über dieses Ritual.«
Er legte einen Arm um ihre Taille und beugte sich vor, um sie noch einmal zu küssen. Diesmal ließ er sich etwas mehr Zeit, um den kostbaren Augenblick zu genießen. »Wenn ein Karpatianer seine Gefährtin fürs Leben findet, spricht er rituelle Worte, um sie an sich zu binden. Die Worte sind ihm von Geburt an eingegeben. Es ist wie eine Heirat unter Menschen, aber viel dauerhafter. Einmal ausgesprochen, schmieden die Worte die beiden zusammen, mit Herz, Geist und Seele. Sie kann ihm nicht entfliehen. Sie können danach nicht voneinander getrennt sein. Sie müssen einander häufig berühren, auch geistig, sonst werden sie ...« Er zögerte auf der Suche nach dem richtigen Wort. »Ich weiß nicht - sie müssen beieinander sein, oder sie können sehr unglücklich werden.«
»Er sagt einfach ein paar Worte, und sie gehört auf immer und ewig zu ihm?« Sie stieß ihre kleine Hand an seine Brust und starrte ihn erbost an. »Das erscheint mir nicht sehr fair.«
»Nun ja, Corinne« - seine Stimme war weich wie Samt und genauso sinnlich - »nicht ich habe das Ritual erfunden. Es ist tausende Jahre alt. Ich kann nichts anderes tun als das, was mein Herz und meine Seele verlangen.«
»Hast du die Worte zu mir gesagt?«
Er schüttelte den Kopf, und sein dichtes blauschwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht. »Das kann ich nicht, solange du so krank bist. Ich weiß nicht, ob dein Herz in der Zeit, in der ich schlafen muss, die Trennung von mir überstehen würde.«
»Und für dich ist es schlimm, dass wir noch nicht aneinander gebunden sind?« Ihre kleinen weißen Zähne nagten an ihrer Unterlippe, während sie sich zu verstehen bemühte, was er ihr gerade erzählt hatte. Worte wie >Rituale< und >Umwandlung< gehörten in eine andere Welt, nicht in ihre. Sie war ein sehr realistischer Mensch.
Als Dayan zu lachen anfing, runzelte sie die Stirn und versuchte, ein strenges Gesicht zu machen. »Du hast schon wieder meine Gedanken gelesen, stimmts?«
Er zuckte die Schultern mit der für ihn typischen nachlässigen Geste, jenem faszinierenden Beben von Muskeln unter straffer Haut. »Natürlich. Ich bin dein Gefährte.«
»Wie kommt es, dass deine Kleidung immer so perfekt ist und dein Haar auch? Und warum hast du morgens keinen schlechten Atem ?« Verlegen legte sie selbst eine Hand auf ihren Mund. Wie konnte er so absolut sexy und verführerisch aussehen, wenn sie völlig zerstrubbelt war und sich wie ein gestrandeter Wal vorkam?
Jetzt lachte Dayan wirklich. Er konnte einfach nicht anders. Das Bild, das sie sich von sich selbst machte, war so weit von der Wirklichkeit entfernt, dass es schon lächerlich war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Corinnes geschmeidiger, schlanker Körper jemals auch nur annähernd an einen Wal erinnern würde. Er ließ sich aufs Bett sinken, neben Corinne, die wirklich vorhanden und am Leben war und deren Herz immer noch schlug, und lachte laut heraus. Es war ein einzigartiger Augenblick.
Auch Corinne musste lachen. Sein fröhliches Lachen war ansteckend und seine Freude so unverhohlen. Sie boxte ihn in die Brust. »Hör auf, mich auszulachen!«
»Ich kann nicht anders, Liebes. Ein gestrandeter Wal? Man kann kaum erkennen, dass du schwanger bist. Das ist wirklich kein passender Vergleich.« Er legte seine Hand auf ihren gewölbten Bauch. »Und es gefällt mir, wenn du zerstrubbelt bist.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und zog ihren Mund an seinen.
Der Boden schien unter ihnen zu schwanken, und tanzende Blitze zuckten durch das Zimmer. Die Luft war förmlich aufgeladen mit Hunger und Verlangen. Dayan hob widerwillig den Kopf und starrte in ihre grünen Augen. »Ich liebe dich so, wie du bist, Corinne. Genau hier, in diesem Bett, auch wenn wir nicht miteinander schlafen können und gerade ein Kind in dir heranwächst. Ich liebe dich mit deinem Haar, das in alle Richtungen absteht, und dem leicht verwirrten Ausdruck auf deinem Gesicht.« Er rollte sich herum und stützte sich links und rechts von ihrem Kopf mit den Händen ab. »Ich liebe es, wenn du mich anschaust, als wolltest du für mich da sein, obwohl ich der Mann bin und für dich da sein sollte.«
Sie legte ihre Fingerspitzen an seinen perfekt geformten Mund. »Wir können füreinander da sein.« Ihre Stimme war weich und einladend, eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte.
Uberwältigt von Liebe zu ihr, senkte er seinen dunklen Kopf, ganz langsam, sodass sie sehen konnte, wie er näher kam. Der Ausdruck in seinen schwarzen Augen war heiß und hungrig und voller Verlangen. Corinne legte ihre schlanken Arme um seinen Nacken und begegnete seinem Mund mit einem Hunger, der seinem in nichts nachstand. Dayan war für sie Wärme und Licht, eine Symphonie der Klänge, die ihre Seele erhellte. Er ließ ihr Herz schneller schlagen und ihren Geist hoch in den Himmel steigen. Niemand sonst existierte für sie, ob Mensch oder Karpatianer. Es gab nur Dayan mit seinen hungrigen Augen und fordernden Lippen und der Seele eines Dichters, seinen harten, männlichen Körper und seine vollkommenen Hände, die sich mit derselben Meisterschaft auf ihrem Körper bewegten wie auf seinem Instrument.
Es war Dayan, der sich zuerst von ihr löste und ein Stück zurückwich, aber er atmete schwer. »Dein Herz hämmert.«
Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, und ihre Augen tanzten. »Das ist dein Herz, nicht meins.« Das war nicht ganz richtig; beide Herzen schlugen in einem Takt.
»Gleich werden die Heiler kommen und uns etwas erzählen«, murmelte Dayan und warf einen Blick zur Tür.
Sie fuhr durch sein Haar, genoss den Luxus, die seidigen Strähnen zu fühlen. »Was sollen sie schon machen, wenn sie uns sehen?«, fragte sie und zwinkerte ihm zu. »Vor Schreck in Ohnmacht fallen?«
»Mich vor die Tür setzen, fürchte ich«; gab er ernst zurück. »Und mir eine Predigt halten, wie unverantwortlich und egoistisch ich bin. Was auch stimmt. Ich sollte immer ganz behutsam mit dir umgehen und nicht jedes Mal der Versuchung nachgeben, wenn du mich anlächelst.« Er runzelte die Stirn, als sie sich mit den Händen gegen seine Brust stemmte. »Was machst du denn da?«
»Aufstehen. Ich muss ins Bad. Mir scheint, eure Spezies muss das nicht sehr oft.« Sie scherzte, doch ihr Lächeln verblasste, als er sie weiter unverwandt ansah. Sie hob eine Hand. »Nein, bitte nicht. Ich will es nicht wissen. Lass mich einfach vorbei, damit ich etwas sehr Menschliches erledigen kann.«
»Mein Liebes ...« Die Worte kamen wie ein samtweiches Wispern aus seinem Mund und schienen in der Luft zu schimmern. »Ich kann dich nicht herumlaufen lassen. Strenge Bettruhe, haben die Heiler gesagt. Ich muss darauf achten, dass du dich daran hältst.«
»Sie haben bestimmt nicht gemeint, dass ich nicht ins Bad darf. Wenn ich mich recht entsinne, hast du mich das letzte Mal getragen, aber das ist nicht nötig.« Als er sich nicht anschickte, sich zu bewegen, stieß sie einen tiefen Seufzer aus und änderte ihre Taktik. »Na schön, dann trag mich eben wieder. Aber es ist peinlich, und ich habe Angst, dass es allmählich zu einer schlechten Angewohnheit wird.«
Dayan hob sie mühelos hoch und barg sie in seinen Armen. »Ich wüsste nicht, warum. Du kommst wirklich auf die merkwürdigsten Ideen.«
»Ich würde zu gern einmal in deinem Bewusstsein herumgeistern und sehen, was dort vorgeht«, warf sie ihm an den Kopf.
Er setzte sie behutsam neben dem breiten Marmorwaschbecken ab. »Du kannst meine Gedanken jederzeit lesen, Liebes. Mein Bewusstsein ist ständig mit deinem verbunden. Ich bleibe als Schatten in deinem Denken, um all die faszinierenden Dinge zu entdecken, die du vor der Welt zu verstecken versuchst.« Er grinste sie an. »Du bist einfach ein zu großer Angsthase, um wirklich nachzuschauen, was mir alles durch den Kopf geht.«
Sie stand vor dem Waschbecken, hielt sich mit beiden Händen fest und starrte ihn eine Weile an. »Na?« Sie wartete. »Raus! Du glaubst doch nicht etwa, dass du hierbleiben kannst!«
»Ich darf dich nicht allein lassen«, erwiderte er freundlich.
»Ich meine es ernst, Dayan. Verschwinde! Keine Widerrede. Raus!« Offensichtlich war es ihr Ernst.
Dayan stand einen Augenblick hilflos da, zuckte dann die Schultern und räumte das Feld. »Vorsicht ist der bessere Teil der Tapferkeit«, lautete ein Motto der Menschen, das ihm dabei in den Sinn kam.
Die Tür fiel auf ein kurzes Wedeln von Corinnes Hand hinter ihm schwer ins Schloss. »Und pass auf, dass dein Bewusstsein mit dir geht!«, rief sie ihm nach, ertappte sich aber bei einem Lächeln, weil sie mit einer Handbewegung Türen und Wasserhähne sowie ihre Zahnbürste in Bewegung setzen konnte und Dayan überhaupt nichts dabei zu finden schien.
Wie kommst du auf die Idee, mein Bewusstsein könnte nicht mit mir gehen und gleichzeitig bei dir bleiben P Seine Stimme huschte durch ihren Kopf wie zarte Schmetterlingsflügel und erfüllte sie mit einem Gefühl von Wärme.
Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie wirklich glücklich, stellte Corinne fest. Sie stand hier im Badezimmer, lehnte sich an das Waschbecken und versuchte, etwas mit ihrer wilden Mähne anzustellen, und war vollkommen glücklich. Sowie sie ihr Haar aus dem dicken unordentlichen Zopf befreit hatte, war es zu schwer, um gebändigt zu werden. Corinne merkte, dass sie zu müde war, um ihre Arme zu heben und sich zu kämmen, und seufzte leise.
Was ist los P Seine Stimme klang besorgt.
Corinne gab keine richtige Antwort, das wusste sie, sondern seufzte nur noch einmal, aber es reichte aus, dass Dayan hereingestürzt kam und sie in die Arme nahm, als wäre sie aus kostbarem Porzellan. Ihr Haar wallte in alle Richtungen, sodass es Dayan auf die Schultern fiel und den dunklen Schatten auf seinem Kinn streifte. »Du kannst es einfach nicht lassen, wie?«, fragte sie, insgeheim erleichtert, dass er zu ihrer Rettung herbeigeeilt kam.
»Ich wusste, dass du Rettung brauchst«, sagte er voller männlicher Genugtuung.
»Habe ich an >Rettung< gedacht? Das war das Wort, das mir durch den Kopf gegangen ist?« Sie schüttelte den Kopf und setzte sich aufs Bett. »Kann ich mir nicht vorstellen. Das würde ich nie denken.«
»Doch, es war eindeutig Rettung.« Er hatte nicht vor, sie so leicht vom Haken zu lassen, nicht, wenn ihre grünen Augen vor Lachen funkelten und ihr bezauberndes Grübchen deutlich zu sehen war. Dieses Grübchen liebte er ganz besonders. Er wusste, er hätte es stundenlang betrachten können, ohne sich daran je sattzusehen.
Er nahm ihr die Bürste aus der Hand. »Unglaublich, was von den Männern meiner Rasse alles verlangt wird.«
Corinne zeigte mit der Hand auf die Mitte des Zimmers »Geh dahin und mach irgendwas.« Als er sitzen blieb, gab sie ihm einen Schubs. »Los, mach schon.«
»Irgendwas?«, echote er, während er sich gehorsam in die Zimmermitte stellte. »Was denn?« Er klang wachsam.
»Weiß ich auch nicht. Irgendwas, das cool ist. Was machst du denn gern?« Sie spähte unter ihren langen Wimpern zu ihm.
Dayan grinste plötzlich lausbübisch. »Egal, was es ist?«
»Klar. Irgendwas ganz Tolles.«
Seine schwarzen Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Wenn ich dir etwas zeige, zeigst du mir dann auch etwas?«
»Klingt nach einer Herausforderung«, fand Corinne. »Und einer Herausforderung konnte ich noch nie widerstehen.«
»Dann du zuerst.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte sie mit seinen dunklen Augen. »Wenn ich anfange, fällst du wahrscheinlich vor Schreck in Ohnmacht.«
»In Ohnmacht?! Ich bin nicht der Typ, der ohnmächtig wird. Da ich inzwischen weiß, was du drauf hast, gibt es nichts, womit du mir Angst einjagen kannst«, gab sie hochmütig zurück.
Aber du glaubst nicht wirklich, dass ich es kann. Seine Stimme wisperte verführerisch intim in ihrem Geist. Sie war eine einzige Versuchung und verwandelte Corinnes Körper in flüssige Hitze.
Corinne ertappte sich dabei, ihn wie gebannt anzustarren. Er hatte sie so vollständig und so perfekt mit der dunklen Melodie seiner Musik umhüllt, dass ihr nicht einmal aufgefallen war, wie tief sie mittlerweile in seine Seele eingedrungen war. Um ihre Reaktion auf die reine Intimität ihrer Bewusstseinsverschmelzung zu überspielen, brachte Corinne ihre auf
Abwege geratenen Gedanken energisch unter Kontrolle und konzentrierte sich auf ihr Vorhaben. Sofort schoss die Bürste aus Dayans Hand und segelte durch die Luft, um Corinnes wogende Haarmassen zu bändigen. Ohne ihre Hände zu benutzen, mit reiner Konzentration und Willenskraft teilte sie ihre Mähne in drei Stränge und flocht sie zu einem dicken Zopf. Ein Haargummi kam auf Corinnes Befehl herbeigewirbelt und schlang sich um das Ende des Zopfes.
Erst jetzt schaute Corinne Dayan an. Die Freude über ihre gelungene Aktion wurde ein wenig von Nervosität getrübt. »Na?« Sie sah wie ein kleines Mädchen aus, das nicht weiß, ob es stolz oder ängstlich sein soll.
Er grinste sie unverfroren an. »Jetzt pass mal gut auf.« Dayan streckte einen Arm aus, seine Augen unverwandt auf ihr Gesicht geheftet und geistig vollständig mit ihr verschmolzen, weil er es sofort wissen wollte, wenn seine Verwandlung sie ängstigte. Fell kräuselte sich auf seinem Arm, Muskeln verformten sich und traten hervor.
Staunend schaute Corinne zu, wie der Mann langsam seine Gestalt veränderte, bis ein großer Leopard mitten im Zimmer stand und sie mit demselben eindringlichen Blick wie Dayan anstarrte. Einen Moment lang war sie wie gelähmt und starrte zurück, aber dann bewegte sich die Raubkatze und kam lautlos näher. Sie erkannte ihn! Es war Dayan, sie wusste es. Der Körper besaß dieselbe geschmeidige Anmut und Kraft, in seinen Augen lag derselbe hungrige Ausdruck. Ihr Herz schlug schneller, jedoch nicht aus Angst. Es war Staunen, Faszination, aber keine Angst. Wie hätte sie so etwas wie Furcht empfinden können, wenn es Dayan war?
Der Leopard schmiegte sich an sie, und sie vergrub ihre Hand in dem schimmernden Fell. Sie staunte über die weiche Fülle und über die Freude, einem Wesen, das in die Wildnis gehörte, so nah zu sein. Corinne lachte laut, als sie mit den Fingerspitzen über den Kopf des Tieres strich. Einen Moment lang rieb sie ihr Gesicht an dem starken Nacken des Leoparden und genoss es, sein Fell an ihrer Haut zu spüren. Es war eine unvorstellbare Erfahrung, einem wilden Tier so nahe zu kommen. Der Leopard rieb sich an ihr und starrte sie aus seinen Augen an; er faszinierte sie und hielt sie in seinem Bann. Dayan. Ihr Dayan. Sie würde ihn immer erkennen, in jeder Gestalt.
Ohne jede Vorwarnung schien von einem Moment auf den anderen ein dunkler Schatten in den Raum zu kriechen und die Luft in eine zähe, schwärende Masse zu verwandeln. Corinne erstarrte. In ihrem Bewusstsein spürte sie Dayans tröstliche Nähe. Entsetzt beobachtete sie, wie der Schatten an der Wand Gestalt anzunehmen schien, eine groteske, gekrümmte Figur, ein Skelett mit langen, knochigen Fingern, die an den Spitzen in messerscharfen Klauen endeten. Corinnes Herz klopfte laut, und sofort stand Dayans Körper schützend vor ihr. Sie spürte, wie auch die anderen in ihr Bewusstsein eintraten - Desari sanft und beruhigend, Gregori und Darius mächtig und absolut tödlich, wie ihr schien.
Sie alle beschützten sie, schirmten sie vor dem schleichenden Schatten ab. Dieses Ding war durch und durch schlecht, ein bösartiges, bedrohliches Wesen, das irgendetwas suchte, etwas jagte. Es jagte sie, davon war Corinne überzeugt. Sie saß völlig regungslos, im Geist fest verankert mit der Ruhe und Sicherheit der anderen. Seltsamerweise schlug ihr Herz im selben stetigen Rhythmus wie Dayans Herz weiter, und ihre Lungen atmeten zusammen mit seinen.
Es war Dayan, der sie am meisten überraschte. Ihr sanfter und liebevoller Dichter, der so zärtlich und rücksichtsvoll sein konnte, war plötzlich völlig verändert. Sie spürte den Kontrast zuerst in seinem Geist. Corinne war so auf ihn abgestimmt, dass ihr die Veränderung sofort auffiel. Sie kam blitzschnell und wie von selbst, und Corinne erkannte, dass diese Eigenschaften ebenso sehr Teil von ihm waren wie seine Sensibilität, seine Musik und seine Lyrik. Er war dunkel und gefährlich, ein eiskalter Jäger, der aufs Töten abgerichtet war. Gnadenlos und ohne Reue oder Skrupel. Das totale Gegenteil ihres Dichters. Das grausame, unbarmherzige Tier, als das er sich selbst bezeichnet hatte. Nichts konnte ihn von seiner Fährte abbringen, und er würde die Jagd erst beenden, wenn er seine Beute zur Strecke gebracht hatte.
Corinne spürte Desari stärker als je zuvor, ihre Ruhe und ihren Trost, die Worte, die sie ihr im Geist leise zuraunte, Worte, die beinahe unverständlich waren, Corinne aber trotzdem zu verstehen halfen, was für ein Wesen Dayan in Wirklichkeit war. Sie fühlte einen momentanen Sog, als der Eindringling die Hände nach ihr ausstreckte, um sie aus dem Kreis herauszuholen. Sie befand sich innerhalb der Wände des Kokons, den die anderen um sie herum bildeten, in Sicherheit. Es war ausgeschlossen, dass das dunkle Grauen sie fand. Stattdessen traf es auf die drei männlichen Karpatianer.
Corinne spürte es. Sie spürte den Schock, das Zurückschrecken. Das Wesen stieß einen schrillen Schrei aus, einen grauenhaften Laut des Zorns und der Furcht, der über die lauschenden Karpatianer in Corinnes Bewusstsein drang. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis Corinne erfasste, dass dieses Wesen nur die Männer wahrnehmen konnte. Die Frauen waren so tief mit den Männern verschmolzen, dass das Monster nur die Kraft der männlichen Karpatianer spürte und sich sofort zurückzog.
Corinne blinzelte Dayan an, immer noch fassungslos über den Vorgang, der ihren Dichter in einen gnadenlosen Jäger verwandelt hatte. Seine Hand strich unendlich sanft über ihr Gesicht und ihr Haar und schien einen Moment lang zu verharren, aber sein Körper schimmerte beinahe durchsichtig. Ihr stockte der Atem in der Kehle, als sie mit ansah, wie er sich vor ihren Augen in Dunst auflöste. Anstelle von Dayan waren nur noch feine Wassertröpfchen zu sehen. Die Dunstschleier wehten durch den Raum und zur Tür hinaus.
Und damit war Dayan verschwunden, einfach so. Aus dem Zimmer ebenso wie aus ihrem Bewusstsein. Auch Gregori und Darius waren nicht mehr da. Geblieben war nur Desari, die die Tür des Zimmers aufstieß und mit einem aufmunternden Lächeln zu ihr glitt. »Du hast doch keine Angst, oder?«, fragte sie mit ihrer schönen, ausdrucksvollen Stimme.